Читать книгу Scurrilitas - Hans Rudolf Velten - Страница 36
2.4. Bachtins ‚grotesker Körper‘ als Textmetapher
ОглавлениеIm Mittelpunkt von Bachtins Konzeption des ‚grotesken Körpers‘ steht der Aspekt der Durchlässigkeit und des Austauschs. Beständige Ströme in Form von Nahrung, Exkrementen, Blut und Schleim durchqueren ihn von innen nach außen und umgekehrt, machen aus ihm einen Ort der kontinuierlichen Aufnahme und Ausscheidung. Das spezifisch Groteske entsteht jedoch nicht allein aus der Wahrnehmung der Wechselstoffvorgänge des Körpers, sondern auch der Transgression von Normen der Verhüllung und des Verbergens der körperlichen pudenda sowie seiner wandelbaren und hyperbolischen Anatomie (Größe, Form, Gestalt). Dieser organisch-leiblich gefasste Körperkonzeption eignet auf politisch-gesellschaftlicher Ebene ein subversives und utopisches Potential: Der groteske Körper steht symbolisch für die Befreiung von Ordnungskonventionen, er ist Zentrum der „Lachkultur des Volkes“. Dieser Aspekt, der für Bachtin offensichtlich auch aus politischen Gründen wichtig war (Widerstand gegen den Terror der Stalinzeit), und der in der Bachtin-Rezeption besonders stark kritisiert wurde (vor allem der Zusammenhang Karneval-Lachkultur),1 interessiert in unserem Zusammenhang jedoch nur in untergeordneter Hinsicht.
Wichtiger dagegen ist, was der ‚groteske Körper‘ als methodischer Terminus für unsere Fragestellung leisten kann. Bachtin konzeptionalisiert ihn zunächst als polyvalente Metapher, die zwischen Motiven der Literatur, der Kunst und dem Imaginären oszilliert. Sie dient ihm als universelle Chiffre einer popularen Lachkultur, die gleichzeitig sprachlich-literarische Körperkonzepte, aufgeführte Körper und imaginäre Körper vereinigt. Der ‚groteske Körper‘ manifestiert sich beispielsweise in Bildern wie dem der schwangeren Alten:
Das Groteske vereint den verfallenden, schon deformierten Körper mit dem noch nicht entwickelten, gerade gezeugten, neuen Leben. Hier wird das Leben in seiner ambivalenten, innerlich widersprüchlichen Prozesshaftigkeit gezeigt, nichts ist fertig, die Unabgeschlossenheit selbst steht vor uns. Genau darin besteht die groteske Körperkonzeption.2
Der Darstellungmodus des gleichzeitig werdenden und sterbenden Körpers, der durch seine Ausstülpungen (Nase, Phallus, weibliche Brüste, Hintern usw.) und seine Öffnungen (Mund, Ausscheidungsorgane usw.) mit der Welt verbunden ist und in einer Art Austauschbeziehung zu ihr steht, gehört nach Bachtin als „grotesker Realismus“, der „mehrere Jahrtausende lang maßgebend für Kunst und Literatur (...) war, der volkstümlichen Lachkultur an.“3 Zu seinen Charakteristika zählen auch mit ihm verbundene groteske Motive wie das nach außen gekehrte Körperinnere, das übermäßige Essen und Trinken, die Ausscheidungsprozesse usw., Motive, die sich durch stilistische Merkmale wie Übertreibung und Hyperbolik auszeichnen. Bachtin beschreibt diese Körperauffassung als charakteristisch für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Erst im Lauf der Neuzeit sei dieses Konzept demjenigen des fertigen, streng begrenzten, nach außen verschlossenen, individuell ausdrucksvollen Körpers gewichen. Bachtin sieht die Manifestationen des ‚grotesker Körpers‘ vor allem in der Literatur, und hier speziell in der Sprache Rabelais’ gegeben. Es ist die volkstümliche Sprache des Marktplatzes,4 das familiäre Schimpfrepertoire wie Schwüre, Flüche und Schimpfworte, die gemeinsam mit der transgressiven Sprachartistik des Dichters, die aus Elementen der Sprachmischung, imkompatiblen Sprachhandlungen und Stilmischung besteht, das ‚Fleisch‘ des grotesken Körpers ausmachen.5 Insofern ist der groteske Körper ein semiotisches Konstrukt, eine „somatische Semiotik“, wie es Renate Lachmann im Vorwort zur deutschen Ausgabe ausdrückt,6 ein Körper, der sich in Sprachbildern und sprachlichen Effekten wie Familiarisierung, Degradierung und Profanierung konstituiert.
Die relative Unabhängigkeit des ‚grotesken Körpers‘ von historischen, sozialen und kulturellen Koordinaten macht es nicht nur möglich, dass Bachtin sein Konzept zur ideologischen Chiffre ausweitet, wenn der groteske Körper zum Volkskörper wird:
Er ist der große kollektive Volkskörper, für den Geburt und Tod nicht Anfang und Ende im absoluten Sinne, sondern bloß Momente des permanenten Wachsens und der Erneuerung sind. Der große Körper des mittelalterlichen Satyrspiels ist von der Welt nicht zu trennen, er (...) bildet ein gemeinsames Ganzes mit der verschlingenden und gebärenden Erde.7
Damit wird dem ‚grotesken Körper‘ überdies ein utopisches Potential eingeschrieben, das in der Unsterblichkeit der Materie und der Befreiung durch den Karneval seine Erfüllung findet.8 Der groteske Körper Bachtins ist somit nicht Lachanlass, er ist Welt, Volk, Utopie, Lachen an sich. Insofern ist er von einem umfassenden Wesen her bestimmt, eine feststehende Größe, unabhängig von Zeit und Raum, von Texten und Gattungen. Diese Bestimmungen ziehen die Frage nach sich, wie das Adjektiv ‚grotesk‘ in Bachtins Konzeption noch seine Berechtigung als Kennzeichen einer Lachkultur findet. Denn seine Argumentation in diesem Aspekt ist äußerst schwach.9 Das Groteske ist ja keineswegs identisch mit dem Komischen oder dem Burlesken, es enthält neben seiner Tendenz zur Inversion und zur Chimäre auch starke Elemente des Schreckens und der Angst; diesen Punkt erwähnt etwa Gurjewitsch, wenn er kritisiert, Bachtin spreche kaum von Furcht und Schrecken des Volkes, wo diese mit Lachen und Freude doch Hand in Hand gingen.10 Das Furchterregende ist mithin in anderen Theorien des Grotesken thematisiert worden, etwa als unheimliche Verfremdung der Wirklichkeit (Kayser) oder in der Inszenierung grotesker Körper als Tier, Teufel oder Monstrum, schließlich als von Alterität bestimmter Körper des Fremden seit St. Brendan und Mandeville bis zu den Entdeckungsreisen der Neuen Welt. Auch ist die Volkskultur als einziger Referent des Grotesken abzulehnen: Allein der Hinweis auf die Mischkultur der Renaissance-Groteske in höfischer Architektur und Gartenkunst oder die Hybridisierung der lateinischen Sprache durch die Humanisten genügt, um dies zu bestätigen.11
Es stellt sich die Frage, ob Bachtins Groteske-Konzept zur Beschreibung des lächerlichen menschlichen Körpers im engeren und von Lachvorgängen im weiteren Sinne geeignet ist. Als übergreifendes Diskursmodell karnevalesker (hyperbolischer, familiärer und hybrider) sprachlicher Formen, die die Körperfunktionen des Menschen betreffen, mag es eventuell hilfreich sein. Als Kern eines speziell volkstümlichen Motivsystems, das jedoch weit über das Lachen hinausgeht, kann es – mit Einschränkungen – für Untersuchungen in Literatur und Kunst ebenfalls relevant sein.12 Nur eine unzureichende Antwort jedoch kann es auf die Fragen nach den Aufführungsformen des Körpers in Lachzusammenhängen geben: Über welche Körperdarstellungen wird in welcher Situation und sozialen Konstellation gelacht? Wie sehen die Diskurse und Bilder des aufgeführten lächerlichen Körpers aus und auf welche möglichen Interaktions- und Praxisformen weisen sie hin?
Um diese Fragen zu beantworten, ist es angeraten, den metaphorisch vieldeutigen und mittlerweile vollkommen mit Bachtin identifizierten ‚grotesken Körper‘ als methodischen Begriff im Hintergrund zu halten und stattdessen mit dem einfacheren, doch auf vielen Ebenen praktikableren Begriff des „komischen Körpers“ zu arbeiten.13 Damit können die performativen Akte körperlicher Lachanlässe, wie sie in Spielen und vor allem in textuellen Inszenierungen greifbar werden, genauer analysiert werden. Er ist auch gegenüber dem „lächerlichen Körper“ besser geeignet, weil er auf die Aufführungsbedingungen beim Lachen über Körperliches verweist: Es ist der für eine Gruppe von Lachenden inszenierte und dramatisierte, sich bewegende und stimmlich vernehmbare Körper in Aufführungen und ihren medialen Re-Inszenierungen. Gegenüber dem „lächerlichen Körper“, der eher unfreiwillig verlacht wird, ohne sich planvoll in Szene gesetzt zu haben, ist der komische Körper von Beginn an gänzlich auf das Lachen ausgerichtet und von ihm abhängig. Er wird durch das Lachen der Anderen erst zum komischen Körper, ist in dem Maße als performativ zu kennzeichnen, als er nicht konstativ Bedeutungen aussagt, sondern in der Interaktion mit Anwesenden Wirklichkeit in actu konstituiert.14 Das Lachen bindet ihn auch an bestimmte soziale Kontexte (höfische, volkstümliche, städtische oder klerikale Unterhaltungsokkasionen wie gemeinsames Essen, Jahrmarkt, Karneval, Posse oder Narrenfest), das Lachen bestimmt die mit ihm verbundenen histrionischen Techniken der Mimesis und Transformation. In den meisten dieser Situationen ist er tatsächlich von einer Unabhängigkeit von Konventionen der Haltung und der Disziplin charakterisiert, was seine Inanspruchnahme durch „Gegenkulturen“ und seine hohe Ambivalenz erklärt. Die bereits von Gumbrecht gesehene Zugehörigkeit des komischen Körpers zu „Spiel- und Gegenwelten“, seine „asymmetrische Negation“15 muss somit auch lebensweltlich erweitert werden, indem er auf die Profession und die spezifische Rechtsposition der professionellen Körperdarsteller (Gaukler, künstlichen Narren, Tänzer, Bühnendarsteller) hinweist.
Die Frage, ob ein komischer Körper grotesk sein kann, muss demnach entschieden affirmativ beantwortet werden: Bachtins Verdienst ist es ja gerade, das Groteske als Form des Lächerlichen wieder brauchbar gemacht zu haben. Im Anschluss an die Arbeit von Peter Fuß lässt sich der groteske Körper als metaphorisches Gegenbild zum klassisch schönen Körper definieren und meint die Auflösung der Allgemeinverbindlichkeit konventioneller Normen und die Tendenz zu ihrer Destabilisierung:
Die groteske Struktur ist Produkt der Dekomposition der Relationen und der Permutation der durch die Dekomposition (...) freigesetzten Elemente einer (...) kulturellen Ordnungsstruktur und ihrer modifizierten Rekombination. Wird sie mit jener Ordnung konfrontiert, deren virtuelle Anamorphose sie darstellt, forciert diese Kollision die Liquidation der Ordnung und erhöht die Wahrscheinlichkeit ihrer realen Transformation.16
In anderen Worten, groteske Körper (als theatrale und künstlerische Figurationen) können in ihrer Tendenz zur Destabilisierung und Auflösung kultureller Strukturen und Ordnungen beschrieben werden, sie sind hybride und transformative Erscheinungen. Ihr semantisches Potential kann erst in der Aufführung wirksam werden; das Lachen, welches die Wahrnehmung des grotesken Körpers auslöst, ist damit auch kein kosmisches, kollektives und universales Festtagslachen, sondern an bestimmte historische und rituelle Aufführungskontexte gebunden. Es kann heiter und lustvoll, aber auch ausgrenzend, spöttisch oder erniedrigend sein.
Noch ist weitgehend nicht erforscht, welche Rolle der Körper als semiotisches und performativ-materiales Phänomen in den Aufführungen und Texten der Vormoderne spielte, wie seine Präsenz bei komischen Szenen gewirkt hat und mit welchen gestischen und mimischen Codes genau gearbeitet wurde.17 Dass der Körper als Lachender, aber auch als Lachanlass in vielfältiger Weise, und nicht nur innerhalb einer wie auch immer konstruierten popularen Kultur gegenwärtig war, dürfte inzwischen unstrittig sein, und dies ist nicht zuletzt trotz aller Einschränkungen das Verdienst Bachtins. Denn er war der erste, der den Körper als zentralen Aspekt des Lachens als einer rituellen Handlung erfasst hat, als einen in zyklische Feste eingebundenen Zeit-Ort, der nur in und durch Gemeinschaft entstehen und wahrgenommen werden kann. Dass dieser Körper noch genauerer Konkretisierung bedarf, dürfte ebenso deutlich geworden sein. Vor allem die Frage, wie die Rituale und Praktiken beschaffen sind, an denen er teilhat bzw. in denen er Lachen hervorruft, ist hier von Interesse.