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2.3. Die doppelte Leerstelle

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Die weitgehende Abwesenheit des lächerlichen Körpers in der Forschung bezieht sich auf alle bisher untersuchten Arbeitsfelder. In den Theorien des Lachens und der Komik spielt er, bis auf Bergson und Plessner, nur eine untergeordnete Rolle; in den jüngst stark und zu Recht angewachsenen Körperstudien, welche in hohem Maß interdisziplinär angelegt sind, wird er ebenso ausgeklammert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Er entzieht sich strukturellen und diskursiven Konstruktionen, welche die Forschung dominieren, er wird kaum mit Lachen und Komik in Verbindung gebracht. Andererseits wurde er auch in der Komik- und Lachforschung als Untersuchungsgegenstand nicht recht ernst genommen, sondern immer wieder semantisch-ontologischen Fragestellungen untergeordnet. Dies ist paradigmatisch erkennbar an einem weiteren Forschungsfeld, der Narrenfigur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Die Theaterfigur des Narren hat lediglich in Untersuchungen zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen weltlichen Spiel eine gewisse Aufmerksamkeit erlangt, doch ist es hier vor allem die sprachliche Komik und die allgegenwärtige skatologische Komik, die im Mittelpunkt der Analysen stand.1 In der Prosa haben an der Narrenfigur ihre satirischen und politischen Zwecksetzungen mehr interessiert als ihre Unterhaltungsfunktion, da die Narrenliteratur des 16. Jahrhunderts insgesamt weniger im Zeichen des Lachens, sondern der moraldidaktischen Satire steht.2 Durch die Konzentration auf die satirisch-semantische Komik sind die performativen und körperlichen Aspekte an der Narrenfigur zugunsten ihrer vielfachen symbolischen und zeichenhaften Ausprägungen weitgehend vernachlässigt worden. Ausgehend von den großen Werken der Narrenliteratur seit Sebastian Brants Narrenschiff wurde der Narr als Stände übergreifender Träger von Sünden und falschem Handeln, als bildkräftiges Medium reformatorischer und antireformatorischer Propaganda, aber auch als Metapher für die diskursive Schwelle zwischen Vernunft und Unvernunft, Narrheit und Weisheit behandelt.3 Dabei schien der Körper des Narren weniger lebendiger Akteur und Handlungszentrum, sondern eher Einschreibefläche semantischer Ambivalenz.4

Ein Blick auf die breite diskursive, theatrale und ikonographische Adaption der Narrenfigur im 16. Jahrhundert durch die konfessionelle und stadtbürgerliche Literatur macht deutlich, in welch hohem Maße der lächerliche Körper in verschiedenen Lebens- und Diskurszusammenhängen verwendet wurde. Dies gilt bereits für Hoch- und Spätmittelalter, führt man sich das Auftreten von Narrenfiguren in so unterschiedlichen Gattungen wie der Märenliteratur, der höfischen Literatur oder der Schauspieltexte vor Augen. Im Anschluss an Bynums Formulierung, den Körper im Mittelalter habe es nicht gegeben,5 muss die Annahme erlaubt sein, den lächerlichen Körper in Mittelalter und früher Neuzeit habe es ebenso wenig gegeben. So betrachtet, erscheint auch er in mindestens acht verschiedenen Diskursen, bei denen er jeweils verschiedenen Formen des Lachens zugeordnet werden kann:

 (1) Der Diskurs der sozialen Ausgrenzung (Lachen über Verkrüppelte, Deformierte, Blinde, Arme, Narren usw.): hier geht es um böses, überlegenes oder gewalttätiges, in jedem Fall exkludierendes Lachen.6 Das ästhetische Pendant dazu ist

 (2) Der Diskurs des Hässlichen und Grotesken (Lachen über menschliche Disproportionen und Deformationen, Tier-Mensch-Verbindungen, schließt an die antike deformitas-Debatte an):7 genüssliches und seit Aristoteles enthebbares, aber auch Ekel abwehrendes Lachen.

 (3) Der Diskurs der Unterhaltung (akrobatische und imitative Körperkomik bei Festen und Feiern): gründet sich in der Regel auf lautes fröhliches, unbeschwertes Lachen.8

 (4) Der Diskurs der Diätetik (Körperinszenierungen und Streiche von Hofnarren, unfreiwillige Körperkomik): bestimmt herzhaftes Lachen als Therapie zur Gesundung, als Mittel gegen die Melancholie, als Form der Reinigung des Körpers.9

 (5) Der Diskurs des Anderen (Lachen über die Körperlichkeit von Teufeln, Fremden, Heiden, Narren, Riesen): Lachen ist hier höchst ambivalent, aber entlastend und gemeinschaftsbildend.10

 (6) Der Diskurs der Freiheit (der triebenthemmte Körper, körperliche Subversionen, Skatologie): hier geht es um das rituelle und vitale, befreiende Lachen nicht nur des Karnevals.11

 (7) Der Diskurs der spielerischen Provokation (transgressives Zeigen von Körperlichkeit, Verkleidung): geselliges und distanzierendes, aber auch spöttisches und strafendes Lachen, teils verbunden mit Scham.12

 (8) Der Diskurs des Scheiterns (der unfreiwillig komische Körper): schadenfrohes, aber auch erleichtertes Lachen.13

Diese Zusammenstellung ist als heuristischer Vorschlag anzusehen und erhebt weder Anspruch auf Endgültigkeit noch auf Vollständigkeit. Sie steht nicht am Ende der Untersuchung, sondern am Anfang, und soll daher zunächst vor Augen führen, wie differenziert im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit der lächerliche Körper diskursiv ausgestaltet werden konnte. Sie soll aber vor allem Anlass für Fragestellungen sein, die sich aus ihr unweigerlich ergeben: Wie wird der lächerliche Körper jeweils konstruiert, wie wird er diskursiv und imaginär codiert? Und darüber hinausgehend: In welche Praxiszusammenhänge und Aufführungen ist er eingebunden, auf die diese Diskurse rekurrieren, wie wird er ver-körpert? Jedenfalls ist zum jetzigen Zeitpunkt schon zu vermuten, dass die vorliegende Untersuchung das Ineinanderspiel von diskursiven und praktischen Inszenierungen des lächerlichen Körpers behandeln muss, um überhaupt einen methodischen Zugriff auf seine Performativität zu erhalten.

Weitere Fragen können entwickelt werden: Inwieweit sind lächerliche Körper Phänomene der Liminalität und/oder der Normtransgression? In welchem Umfang hängen sie mit dem Schwellenalter der Jugend zusammen? Wie sind sie geschlechtlich codiert? Markiert das Lachen über Körperliches soziale Unterschiede? Auch geht es immer noch um Grundsätzliches: Welche Personen und Figuren erregen in Mittelalter und früher Neuzeit überhaupt Lachen auf Grund ihrer Körperlichkeit?14

Diese Fragen sind allerdings nur auf der Basis einer Mediendifferenzierung zu beantworten, die die spezifische Textualität (Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Gattungsbindung) und die ihr zugrunde liegende Diskursivität (narrative und rhetorische Formen) mit dem ‚Sitz im Leben‘ des lächerlichen Körpers, seinen theatralen und rituellen Inszenierungsformen sowie seinen Orten (theatrales Spiel und Spektakel, Feste und Karneval, Rituale, höfische Jagd und Mahl, Geselligkeit usw.) verbindet. Erst dann lässt sich effektiv von ‚Körperinszenierungen‘ in Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit sprechen.15 Die wichtigsten Vorarbeiten für diesen Fragekomplex sind unabweislich – ich habe es oben bereits erwähnt – in der Monographie Rabelais und seine Welt von Bachtin geleistet worden. Deshalb muss jede nachfolgende Arbeit dazu sich zunächst mit seinen Thesen auseinandersetzen.

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