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2.6. Scurrilitas: Transgressionen des Possenreißers

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Im zweiten Buch von Baldesar Castigliones Hauptwerk Il libro del cortigiano (Das Buch vom Hofmann, publ. 1528) geht es um die gesellschaftliche und moralische Aufwertung des Lachens und seiner zugehörigen Inszenierungstechniken. Dabei wird mit einem Gegenmodell gearbeitet, gegen das der Hofmann abgegrenzt und seine Konturen herausgearbeitet werden können. Nicht zufällig entspricht dieses Gegenmodell auch jenem, das auch schon Cicero für seinen orator gebraucht hat: Es ist der Possenreißer.

Spesso s’urtano giù per le scale, si dan de’legni e de’mattoni l’un l’altro nelle reni, mettonsi pugni di polvere negli occhi, fannosi ruinare e cavalli addosso ne’ fossi o giù di qualche poggio; a tavola poi, minestre, sapori, gelatine, tutte si danno nel volto, e poi ridono (...). Sono alcuni che contrastano e mettono il prezio a chi può mangiare e bere più stomacose e fetide cose; e trovanle tanto aborrenti dai sensi umani, che impossibil è ricordarle senza grandissimo fastidio.1

Der Possenreißer, bei Castiglione buffone genannt, verhält sich zum gewitzten Hofmann, zum homo facetus, wie die Transgression zur Norm.2 Er ist notwendigerweise konstruiertes Negativbild einer idealen Figur, an der die Normativität erkennbar wird. Die ihm zugeschriebenen Handlungen, die buffonerie, können jedoch von jedermann nachgeahmt werden, und darin liegt die Gefahr seines Verhaltens, denn wenn man etwa Imitationen körperlicher Defekte anwesender Personen zu offensichtlich zur Schau stellt, um Lachen zu erregen, kann dies sehr schnell zu Beleidigung und Ehrverletzung führen und furchtbare Konsequenzen auslösen. Dafür will Castiglione kein Beispiel geben, da man von solchen Dingen jeden Tag unendlich viele sehen könne.3

Überträgt Castiglione damit nicht nur einen literarischen Topos falschen und daher zu verurteilenden Verhaltens in seine Zeit? Einerseits kann man diese Frage sicherlich bejahen, andererseits aber stammen die Beispiele, die im Text angeführt werden, aus der Hofnarren-Kultur der italienischen Renaissance, seien sie nun theatral oder narrativ vermittelt. Wenn wir diese Beispiele näher betrachten, erkennen wir, worin die Hauptunterschiede zwischen Possenreißer und Hofmann bestehen: es ist die übertriebene, grobe und unflätige Inszenierung des lächerlichen Körpers, das Abgleiten ins sprachliche und gestisch Zotige und Obszöne, die Kunst der Nachahmung und üblen Nachrede, die der Hofmann in jedem Fall vermeiden soll:

Ché in vero ad un gentilomo non si converria fare i volti, piangere e ridere, far le voci, lottare da sé e sé, come fa Berto, verstirsi da contadino in presenza d’ognuno, come Strascino; e tai cose, che in essi son convenientissime, per esser quella la lor professione.4

Definitorisch ist der Possenreißer Castigliones also jemand, der seinen eigenen Körper und den der anderen dergestalt in Szene setzt, dass Zuschauer bzw. Zuhörer zum Lachen gebracht werden Dabei bedient er sich aller denkbaren Möglichkeiten, um gegen die Normen der Körper- und Sprachdisziplin zu verstoßen. Es handelt sich demnach um intentional durchgeführte Techniken eines professionellen Lachkünstlers oder Lustigmachers, der sich dabei über die Grenzen des Erlaubten hinaus begibt. Bereits Aristoteles hatte in der Nikomachischen Ethik über das Scherzen die Komik des Possenreißers mit übertriebenen Körperbewegungen beschrieben.5

Im Deutschen geht der Begriff des Possenreißers nach Grimms Deutschen Wörterbuch etymologisch bis ins 16. Jahrhundert zurück und meint dort eine Person, die „durch geberde oder wort zum lachen“ reizt und „belustigt“. Fischart, der den Begriff verwendet, setzt ihm mit ‚abenthewrer‘ gleich, ein Wort, das häufig auch für die Helden von Schwankgeschichten und -romanen verwendet wurde. Das Wörterbuch unterscheidet zwei Haupttypen des Possenreißers: den höfischen Possenreißer oder Hofnarren, und den städtischen Possenreißer, den Vaganten oder Gaukler.6 Die frühneuhochdeutsche Literatur hat beide Typen miteinander verschmolzen, wohl weil ihr Publikum sozial nicht mehr eindeutig zu fixieren war.

Der Begriff des Possenreißers eignet sich deshalb für die Zwecke dieser Studie, weil er einen Typus des professionellen Unterhalters beschreibt, der Lachen vor allem mit Hilfe seiner Körpertechniken erregt, meist auf Kosten anderer. Denn ‚Possen‘ sind mit schädlichen Handlungen, die gleichwohl lächerlich sind und daher auch als Spott zu klassifizieren wären, zu definieren. Demnach wären die Schwankhelden des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, der Pfaffe vom Kalenberg, Neithart Fuchs, Ulenspiegel, aber auch Markolf und Bertoldo, sowie die literarischen Hofnarrenfiguren Possenreißer. Denn im Unterschied zum Narren, dessen Bedeutungsspektrum ungleich weiträumiger ist, kann der Possenreißer klar auf das Lachen bezogen und somit auf den Lachvorgang selbst beschränkt werden. Er ist somit mehr über seine Tätigkeit, seine Handlungen und Aufführungen als über sein Amt, seine institutionelle Zugehörigkeit oder seine symbolische Bedeutung bestimmbar.

Der Narrenbegriff bezeichnete bereits im Spätmittelalter mehr als einen Possenreißer: Der Narr war eine vielschichtige Figur der Differenz, die verschiedenen Diskursen zugehörte. Narrheit konnte als Gottesleugnung verstanden werden (Bibel, Psalmen), als Wahnsinn (geisteskranke Menschen; ein Diskurs, den Foucault verfolgt hat), als das Fremde und Andere (wilde Männer), seit Sebastian Brants Narrenschiff auch als Sünd- und Lasterhaftigkeit, als Dummheit und Einfältigkeit, als tierisches Verhalten oder als fastnächtliche Maske.7 Der Körper dieser Differenzfigur des Narren in all jenen bereits im Mittelalter bestehenden Diskursen konnte daher krank, hässlich oder gewalttätig, er konnte triebhaft-animalisch oder auch nur allgemein-menschlich sein. Immer verstieß der Narr gegen Normen des Mensch-Seins und der wesenhaften Normalität des Menschen: Seine Gegensätze sind je nach Diskurs der gläubige, der gesunde, der zivilisierte, der tugendhafte, der weise und kluge Mensch. Dagegen ist der Körper des Possenreißers immer ein aufgeführter, ein performativer Körper. Er lebt nur in dieser Aufführung, lebt über die Transgressivität seiner Handlungen und Reden. Er verkörpert die jahrhundertealte Tradition der mimischen Alleinunterhalter, die sich in verschiedenen Transformationen von den antiken Schauspielern und professionellen Spöttern und Witzeerzählern über die mittelalterlichen Spielleute und Aufführungskünstler zu den ‚künstlichen Narren‘ der Höfe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit erstreckt. Daher sind die Hofnarren dieser Zeit auch gleichzeitig die größten Possenreißer; sie entwickeln eine ‚cultura della beffa‘, wie Peter Burke es ausdrückt, eine Kultur des Streiches oder der Posse, bei der ihr Körper das wichtigste Werkzeug ist.8

Worin bestehen nun diese Körpertechniken des Lachens – oder besser Lachenmachens – die den Possenreißer auszeichnen? Der französische Soziologe Marcel Mauss hat den Begriff der ‚Techniken des Körpers‘ geprägt. Er versteht darunter „die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen.“9 Körpertechniken können als kulturell bestimmte, sozial anerkannte Gewohnheiten im Sinne von Habitus verstanden werden, die ein spezielles Wissen erfordern und sozial wirksam werden. Entscheidend für die Anwendung des Konzepts im Bereich des Komischen ist nun die Tatsache, dass die Körpertechniken des Lachens sich dadurch auszeichnen, dass sie sich von den sozial normierten und gewussten Techniken unterscheiden, sozusagen als Abweichungen davon zu klassifizieren sind: Mauss berichtet, dass sein Kollege Curt Sachs auf große Entfernung den Gang eines Engländers und eines Franzosen unterscheiden konnte. Aus diesen Beobachtungen schlussfolgert er, dass es eine Erziehung zum Gehen gebe. Abweichungen werden als „komisch“ gekennzeichnet: „Du komische Kreatur, was läßt du beim Gehen immer Deine großen Hände geöffnet!“, sagte ein Lehrer zu Mauss.10

Dieses Beispiel für eine unfreiwillige Komisierung der Gestalt zeigt, wie schmal die Grenze zwischen ‚natürlicher‘ und ‚lächerlicher‘ Körperbewegung ist. Sie ist so schmal, dass mit ihrer Übertretung gespielt werden kann und jede Wahrnehmung des lächerlichen Körpers eine Wahrnehmung eines Auftritts, einer Inszenierung ist. In dem Moment, wo ein Körper aus der Rolle fällt, wird er zum theatralen, aufgeführten Körper, denn er zieht Blicke und damit Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. Im Moment seiner Lächerlichmachung wird er zum theatralen Ereignis. Diese Anfälligkeit von Körperbewegungen und Körperlichkeit allgemein für das Lächerliche macht ihr Potential zur Ambivalenz deutlich: Sie sind offen für Imitationen und Mimikry, mit Hilfe deren die vom Körper repräsentierten Habitus und Differenzen umgekehrt oder subvertiert werden können.

Mit Mimikry bezeichnet man etwa in der postkolonialen Theorie Verhaltensweisen, bei denen nicht mehr zwischen Herrschaftsanspruch und Unterwerfung unterschieden werden kann und mit denen Autorität gekonnt unterlaufen wird. Die Mimikry gehört somit in das Gebiet zwischen Ernst und Posse, sie ist die Domäne der mimic men, der ‚Chamäleon-Menschen‘.11

Die ihr zugehörigen Techniken der Assimilation, Verstellung, Hyperbolisierung, Transformation und Subversion körperlicher und sprachlicher Muster gehören zum Repertoire des Possenreißers. Er führt sie mit Hilfe der eigenen Beherrschung von Gesicht und Mimik, Gestik und Stimme auf, also der professionellen Verstellung seiner Ausdrucksorgane, und verwischt im Akt dieser Nachahmung die Grenzen zwischen sich und dem Anderen. Wie könnte man einem Possenreißer glauben? Man kann es nicht, weil er keine stabile Identität hat, weil man sein ‚wahres Ich‘ nicht kennt, weil er von der Aufführung von Ambivalenzen lebt.

Wenn wir von Körpertechniken des Lachens in einem anthropologischen und sozialen Sinn sprechen, und weiterhin postulieren, dass es gerade professionelle Possenreißer sind, die diese Körpertechniken am effektivsten beherrschen, setzen wir voraus, dass es zu verschiedenen Zeiten unserer (europäischen) Vergangenheit und in verschiedenen Kulturen so etwas wie ‚Possenreißer‘ gibt bzw. gegeben hat. Dies gewissermaßen als eine Arbeitshypothese aufzustellen ist deshalb unverzichtbar, weil nur so die Untersuchung von Körperinszenierungen und -techniken des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in den Folgekapiteln modernen Theorien und Methoden schlüssig geöffnet wird. Der Vorteil eines einheitlichen Begriffs für literarische und dramatische Figuren, die gleichzeitig auch ihren Sitz im kulturellen Leben der Zeit hatten, muss darin liegen darin, dass dieser Begriff auch auf andere Zeiten und Kulturen übertragbar ist und bestimmten Grundmerkmalen folgt, die auch heute noch gelten können. Handelt es sich beim Lachen und beim Lachenmachen ja nicht um ein rein kulturell gebundenes Phänomen, sondern um ein anthropologisch beobachtbares Verhalten, das in seiner Funktionalität auch heute noch bestimmten transhistorischen Invarianten folgt.

Ein Blick auf die Verwendung des Begriffs ‚Possenreißer‘ in außereuropäischen Kulturkreisen kann dies bestätigen; dieser Blick dient dazu, bestimmte Mechanismen des Lachenmachens durch professionelle Lustigmacher aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten und ihr Potential auf die dieser Studie zugrunde liegende Materialien anzuwenden. Figurationen des Possenreißers (engl. joker, buffoon, ritual clown) sind in zahlreichen Kulturen bekannt (s.o. Kap. 2.5); sie wirken als aktive Teilnehmer in verschiedenen Ritualen mit, tauchen, etwa als trickster, in zahlreichen altamerikanischen und asiatischen mythischen Erzählungen auf, sind als ein institutioneller Habitus mit verschiedenen Funktionen in verwandtschaftlichen Beziehungen (joking relationship) bekannt. Die ethnologische und anthropologische Forschung zu diesen Figurationen hat ihre verschiedenen Rollen und Funktionen beleuchtet: So ist es in zahlreichen afrikanischen Kulturen, bei denen er in institutionalisierten, rituellen Rahmungen auftritt, Aufgabe des rituellen Clowns, durch das Erregen von (rituellem) Lachen reinigende Wirkung auf die Teilnehmer am Ritual auszuüben und ihnen dabei zu helfen, diese Reinigung zu vollziehen. Dazu gehört, dass Lachen selbst auf der emotionalen Ebene kathartisch wirkt. „The joker who provokes the laughter is chosen to challenge the relevance of the dominant structure and to perform with immunity the act which wipes out the venial offence“.12 Douglas stellt die Scherzverhältnisse in einen Rahmen der sozialen Kontrolle der Erfahrung. Ihre These ist, dass das Erreichen von Konsens zwischen verschiedenen Erfahrungsbereichen eine Quelle tiefer Befriedigung ist. Von dieser Perspektive aus gesehen ist der Spaßmacher als „ritual purifier“ anzusehen, eine Funktion, die auch für die Possenreißer der europäischen Vormoderne interessant sein könnte.

So hat etwa Piero Camporesi in seinem Buch Rustici e Buffoni (1991) die Körperkunst der mittelalterlichen Possenreißer im Rahmen magisch-ritueller Funktionen beschrieben. Die Körperlichkeit der Hofnarren verweise auf ein vorchristliches Substrat des magischen Priesters, sie enthalte ein dämonisches Potential im doppelten Sinne des heiligen Sakralen und des profanen Sakralen.13 Die meisterhafte Körperkontrolle des Possenreißers und seine gleichzeitige Fähigkeit, anderen diese Kontrolle zu entziehen und sie lächerlich zu machen, zeigt diese Macht des Anderen, die die Angst einjagt, nicht mehr Herr über seinen Körper zu sein.14 Der Possenreißer verkörpere somit nicht nur die symbolische Bedeutung seiner Transgressionen, sondern auch die Vorstellung, wie die Opfer seiner Streiche der Narrheit körperlich verfallen können. Wichtig sind dabei vor allem seine Fähigkeiten zur Metamorphose, zur Verstellung und Verkleidung, zur Dekomposition und Vermischung von sprachlichen Strukturen und sein Spiel mit dem Tabuisierten, insbesondere den menschlichen Ausscheidungen. Gerade die Zurschaustellung skatologischer Vorgänge verweise auf die Relation des rituellen Lachens mit der Trias Nahrung-Ausscheidung-Fruchtbarkeit, ein naturmagisches Verhältnis, das im Mittelalter noch vorhanden war. Eng gekoppelt an diese rituellen und magischen Funktionen des Possenreißers ist die Vorstellung vom Lachen als Heilmittel. Hofnarren etwa werden in Mittelalter und Früher Neuzeit für ihre Fähigkeiten und Eigenschaften geschätzt, Lachen zu erregen und somit zur Freude (iocunditas) und zum Wohlbefinden des Hofes beizutragen. So ist etwa in der Zimmerschen Chronik zu lesen, dass man auf die Kunst eines professionellen Alleinunterhalters vertraute, damit „die herren was zu lachen hetten“, d.h. um eine gewünschte gelöste Stimmung zu erzeugen. Hofnarren waren sowohl verantwortlich für das Gelingen von festlichen Ritualen, wie auch für inszenierte Zwischenfälle bei höfischen Zeremonien, bei denen sie wie ‚Störfaktoren‘ wirken sollten und wirkten.15

Ich kehre zu den spezifischen Körpertechniken zurück, mit denen Possenreißer in Mittelalter und der Frühen Neuzeit gearbeitet haben. Hier sind zunächst Hinweise aus der rhetorischen Tradition nützlich, die den Possenreißer als einen Feind des aptum, der Angemessenheit sprachlichen und körperlichen Verhaltens sieht; „das kann ein unangemessener Körperbau, eine unangemessene Haltung oder Geistestätigkeit sein.“16 Eine solche kontrollierte aptum-Verletzung setzt einen sozial und kulturell bestimmten Maßstab für das Unangemessene voraus, dessen Grenzen der Possenreißer überschreitet und überschreiten darf (dies setzt das Einverständnis der Lachenden voraus). Für viele kommunikative Komik-Theorien gilt gerade diese Maßstabsverletzung als ein Strukturmerkmal von Witz und Komik.17 Denn der Maßstab, der verletzt wird, ist durch gesellschaftliche Konvention und Konsens zustande gekommen und nun das eigentlich Erwartete und Erwartbare. Für Gadamer wird bei der Komik deshalb der sensus communis verletzt. Die Komik gewinne ihr Profil „aus diesem gemeinsamen Sinn für das Wahre und das Rechte, der kein Wissen aus Gründen ist, aber das Einleuchtende zu finden gestattet.“18

Transgressionen dieses sensus communis, wie sie der Possenreißer vornimmt – und wir befinden uns immer noch in der rhetorischen Tradition – können deshalb toleriert werden, weil sie sich erstens auf ein praktisches, nicht auf ein von Gesetzen normiertes, theoretisches Wissen beziehen und zweitens als spielerisch angesehen werden können. So stellte schon Hans Fromm in einem frühen Aufsatz zur performativen Komik der Spielleute, joculatores und Narren fest:

Der homo comicus, welcher der Norm nach Unbeziehbares aufeinander bezieht oder provoziert wird, bestimmte Verhältnisse der Wirklichkeit in ihrer Disproportion und Unangemessenheit auch der Werte in überraschender Weise aufzudecken, handelt als homo ludens – und zwar unter allen Aspekten, die das Spiel bietet.19

Dazu braucht es ein Publikum, das mit seinem Lachen mit den spielerischen Transgressionen des Possenreißers einverstanden ist und sein Einverständnis mit dem Tabubruch durch Gelächter signalisiert. Doch ist das Lachen nicht nur eine Bestätigung der Verletzung des Gemeinsinns, es schafft auch diesen Gemeinsinn.20

Es scheint so, dass der Begriff der inszenierten, ernsthaft-spielerischen Transgression (des praktischen Wissens, der Alltagserfahrung) sich als Oberbegriff für die Körpertechniken der Possenreißer, die auf Lachen zielen, auch für Mittelalter und Frühe Neuzeit eignen könnte.21 Die Transgression (von lat. transgredi = überschreiten, überqueren) bezeichnet eine Bewegung über Grenzen hinweg. Die Übertretung der Grenzen von Normen, Codes und sozial verbindlichen Handlungsmustern ist eine zwar erwartbare, doch mehr oder weniger kontingente Größe, die herkömmlich unter der Rubrik des Devianten und des Regelverstoßes gefasst wird. So wird die Überschreitung von Regeln als Störung und Provokation aufgefasst und mit Sanktionen bedroht.22 Spielerische Transgressionen, die nur probeweise oder experimentell in Kraft gesetzt werden, wie dies etwa in Narrationen der Fall ist, können auch sanktionslos bleiben, durch die Aufführung einer möglichen Provokation jedoch den unterliegenden Normverstoß trotzdem thematisieren.23

In diesem Rahmen sind die Aktionen des Possenreißers, seine obszönen Gesten und Reden zu sehen: Dadurch, dass er als Possenreißer die Lizenz zum Spott besitzt, sind seine Transgressionen sozusagen spielerischer Art, und führen in der Regel nicht zu einem bleibenden Ehrverlust der Geschädigten. Dies ist auch deshalb der Fall, weil die soziale und rechtliche Stellung des Possenreißers meist eine inferiore oder zumindest rituell besondere ist.24 Allerdings kann durch das gemeinsame Gelächter durchaus ein temporärer Gesichtsverlust eintreten. Ist diese Gefahr beim professionellen Lustigmacher schon gegeben, so ist sie beim Scherzen des Hofmanns, wie Castiglione betont hat, oder für den Redner (Cicero) aufgrund seiner sozialen Stellung ungleich größer und das Risiko höher als für den Possenreißer, gegen die Grenzen der Angemessenheit zu verstoßen und Ehrverletzungen zu provozieren. Aus diesen Gründen ist es auch schwieriger, die Wirkungen der Streiche von Possenreißern einzuschätzen. Leichter ist es bei unflätigen Scherzen von Hofleuten. Wenn ihr Verhalten sanktioniert wird, war ihre Transgression, wie bereits Durkheim feststellte, für die Aufrechterhaltung der Norm wichtig, ja sogar notwendig und unvermeidlich. Ohne Übertretung müsse die Norm schließlich verblassen, so der Soziologe Alois Hahn im Anschluss an Durkheim, insofern stärke jede Übertretung die Normierung: „Die Transgression folgt der Norm wie ein Schatten.“25 Wie sich allerdings ‚spielerische‘ Transgressionen auf die von ihnen übertretenen Normierungen und Codierungen auswirken, muss zunächst offen bleiben und am Material untersucht werden.26

Was ist aber das Lachen in diesen Zusammenhängen? Nicht nur ist es das Signal des Einverständnisses der Überschreitung einer Alltagserfahrung; es ist selbst Überschreitung kontrollierter Körperlichkeit und reagiert körperlich auf Körperliches (s.o. Kap. 1.3). Nicht die Transgression selbst macht die Grenze sichtbar, die sie überschreitet, wie Foucault vermutet hatte, sondern es ist das gemeinschaftliche (öffentliche) Lachen als Antwort auf diese Überschreitung, das die Grenzüberschreitung markiert und so die Grenze sichtbar werden lässt.27

Wie Plessner bemerkt hatte (s.o.), ist die Situation, die den Menschen vor dem Lachen überfordert, die seine Person desorganisiert, nicht selten körperlich bestimmt. Die Possenreißer als Agenten des lächerlichen Vorgangs wissen von diesem engen Zusammenhang von inszeniertem Kontrollverlust des Körpers und dem Lachen. In ihren Aufführungen wird eine Präsenz des Körperlichen geschaffen, die bereits affin zum Lachen als körperliche Antwort ist und somit dieses auslösen kann, eine Art Ansteckung mit analogen Mitteln. Das Lachen selbst funktioniert ebenso; als Ausdrucksphänomen des Körpers ist es körperlich ansteckend.

Der komische Körper des Possenreißers ist somit ein aufgeführter Körper, der sich an bestimmten Normen orientiert und diese überschreitet. Er ist jeweils als Transgression des konstruierten normativen Körpers anzusehen, der an Geschlecht, Stand, Herkunft, Beruf usw. gebunden ist. Er manifestiert sich als Überschreitung des männlichen Körpers im cross-dressing und im Verstellen der Stimme (wie im Fastnachtspiel), als Überschreitung des gesunden Körpers in den Imitationen von Lahmen, Buckligen, geistig Kranken, als Überschreitung des standesgemäßen Körpers in Maskerade und Verstellung, als Überschreitung des menschlichen Körpers hin zu tierischen Ausdrucksformen, als Überschreitung des eigenen Körpers gegenüber dem des Anderen, als Überschreitung des kontrollierten Körpers in allen übertriebenen Bewegungen wie im Moriskentanz, als Überschreitung des heiligen Körpers in parodistischen und profanierenden Kontexten wie Spottlegenden, Spottliturgien und Narrenliteratur.

Und diese Transgressionen werden zu einer Zeit vollführt, in der der repräsentierte Körper noch immer ein präsenter Körper des Anderen ist. Dem grotesk-komischen Körper wohnt somit Theatralität inne. Er überschreitet die räumliche agency, die einem menschlichen Körper zugestanden wird, indem er Körpernormen außer Kraft setzt. Er weicht die Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Erwachsenem und Kind, zwischen Mann und Frau, Mensch und Maschine auf. Er übersteigt Form-Grenzen und Bewegungsgrenzen und macht sie dadurch lächerlich („a joke is a play upon form“, wie Douglas sagt). Er ist ein Grenz-Körper, und deshalb macht er uns lachen, denn er tut das, was wir auch könnten, aber auf Grund unserer speziellen Bindung unseres Körpers an Räumlichkeit und soziale Lizenzen nicht tun. Denn davon hängt alles ab, was wir sind: Könige, Höflinge, Hofdamen, Ritter, Bischöfe, selbst Mägde, Bauern und Bettler – der komische Körper würde uns zu einem Schauspieler machen, und wir hätten unsere Würde und unsere Identität verloren. Denn diese ist ursächlich an unsere Körperpräsenz gebunden. Gleichzeitig ist der komische Körper derjenige, der dem mittelalterlichen Zuschauer eine gewisse ästhetische Erfahrung ermöglicht, denn in ihm kann er Distanz nehmen. Wenn der komische Körper auftritt, lachen wir, und können dabei Distanz nehmen, wie wir es auch im Staunen tun. Ästhetische und komische Erfahrung sind hier noch auf der gleichen Linie.28

Scurrilitas

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